Eine Schulverweigerung kann unterschiedlichste Gründe haben. Fakt ist aber, dass ein fehlender Pflichtschulabschluss die Chancen auf dem Arbeitsmarkt stark verringert. Neben der beruflichen ist auch oftmals die soziale Integration gefährdet. Die rechtlich Konsequenzen bei Schulverweigerung kommen hinzu. Meist ist aber nicht die mangelnde Fähigkeiten des Schülers das Problem.
Der Begriff „Schulverweigerung“ erfasst nicht wirklich die dahinterliegenden Problemstellungen. Gerhard Steiner, MSc, Systemischer Psychotherapeut Lebensberater im Gesundheitszentrum Seestadt, 1220 Wien: „In der Fachliteratur wird eher der Begriff Schulabsentismus geführt. Dieser steht für eine Vielzahl an Bezeichnungen, wie etwa Schulmüdigkeit, Schulverdrossenheit, Schulphobie, Schulabstinenz, Schuldistanzierung, Schulvermeidung, Schulschwänzen, Schulverweigerung oder Schulversäumnis.“
Insgesamt ist die Situation sehr komplex und vielschichtig. Alle Betroffenen sind enormen Belastungen ausgesetzt. Natürlich leiden vor allem die Kinder oder Jugendlichen, aber ebenso die Eltern oder das familiäre Umfeld. Als Ursache ist meist nicht nur ein Grund zu finden, sondern das Zusammentreffen mehrerer Faktoren.
Gerhard Steiner: „Auf Seiten der Kinder ist ein Grund die Entmutigung. Wer dauerhaft unter fehlenden Erfolgserlebnissen, Gefühlen des Versagens und Problemen in Beziehungen zu anderen Menschen zu leiden hat, der ist irgendwann entmutigt.“ Auch die fehlende Sinnhaftigkeit wird oftmals angesprochen. Man lernt Dinge, die im späteren Leben kaum noch oder überhaupt nicht mehr gebrauchen werden. Hinzu kommt die Angst vor bzw. in der Schule. Dabei kann es sich um Angst vor Prüfungen, Lehrern oder Mitschülern handeln.
Weitere Gründe für ein Vermeidungsverhalten können soziale Probleme sein, die familiäre Situation oder soziale Unsicherheiten, aber auch in der Beziehung zum Lehrer oder Schulsystem selber. So leiden manche Schüler wegen der gestiegen Anforderungen in der Schule vermehrt unter Stress oder sogar Burnout. Auch Mobbing wird zunehmend ein Thema in der Schule.
Gerhard Steiner: „Grundsätzlich wird das Thema Schulverweigerung in drei Kategorien eingeteilt: Schulphobie, Schulangst und Schulschwänzen.“ Zu Schulangst kommt es aufgrund von Mobbing oder Gewalt durch Mitschüler sowie durch Komplikationen mit Lehrpersonal. Gerhard Steiner: „Hier muss mit Pädagogen und Eltern geklärt werden, ob der Schüler individuell unterstützt und gestärkt werden kann, um den Platz in der Klasse zu behalten.“ Andernfalls ist ein Klassen- oder Schulwechsel sinnvoll, um einen Neustart zu ermöglichen.
Wichtig ist aber, dass jede Veränderung nicht als Kränkung, sondern als Chance für einen Neubeginn gesehen wird. Der Psychotherapeut versucht hier – gemeinsam mit Schule, Jugendamt, Psychotherapeut, Arzt – zu coachen, damit jeder seinen Beitrag annähernd positiv bewerten kann. Gemeinsam mit Familie und Kind werden Sichtweisen erarbeiten, um in wieder einen handlungsfähigen Zugang zum Thema Schule zu erlangen.
Gerhard Steiner: „Wichtig ist, immer den Blick auf die Stärken des Kindes oder des Jugendlichen zu richten. Diese gilt es zu stärken. Zudem gilt es auch therapeutisch mit der Angst zu arbeiten. Angst ist ein lebenswichtiges Gefühl. Angenommen, die Schulangst wäre für etwas wichtig, wofür könnte das sein?“
Im Gegensatz zur Schulangst, deren Problemlösung primär im schulischen Umfeld zu suchen ist, stellen bei der Schulphobie elterliche oder familiäre Interaktionen sowie das familiäre Umfeld den Mittelpunkt der therapeutischen Beratung dar. Allerdings können Schulphobie und Schulangst übergreifend miteinander verflochten sein. Gerhard Steiner: „Meist stehen bei der Schulphobie kindliche Trennungsängste im Vordergrund. Die Selbstwertängste der Kinder können dabei sehr eng mit denen der Eltern verwoben sein. In diesen Fällen wäre die Aufarbeitung der elterlichen Ängste durch Familientherapie indiziert.“
In der systemischen Intervention gibt es eine Vielzahl zusätzlicher Ansätze, die je nach individueller Abklärung Therapeuten Hilfe bieten kann. Eine Option ist die Verwendung von Genogrammen, um transgenerationale familiäre Verflechtungen anschaulich zu explorieren. Auch die Förderung von Unabhängigkeit und Autonomie der Familienmitglieder macht Sinn. Weitere Ansätze sind die Stärkung von Eigenverantwortung von Kind und Eltern, Selbständigkeitstraining und die Lockerung der Eltern-Kind-Beziehung. In manchen Fällen ist auch eine ambulante und stationäre Behandlung angezeigt.
Literatur:
Gerhard Steiner, Schulverweigerung aus der Sicht betroffener Jugendlicher, Masterthesis, Wien 2012
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Buchtipps:
Hilde Trapmann/Wilhelm Rotthaus; Auffälliges Verhalten im Kindesalter – Band 1 und 2; Verlag modernes lernen – Dortmund 2013
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Helga Kittl-Satran; Schulschwänzen – Verweigern – Abbrechen; Studien Verlag Ges.m.b.H, Innsbruck/Wien/Bozen 2006
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Webtipps:
Projekt Schlangenfuß
Ein Schulprojekt für Schulphobiker und Kinder mit Angststörungen im 11. Wiener Gemeindebezirk.
https://spz11.schule.wien.at/unsere-schule/schulprofil/kerndaten-zur-schule/
Projekt KIPRAX
Zentrum im Netzwerk für Lern-, Schul- und Erziehungsfragen im 19. Wiener Gemeindebezirk.
www.kiprax.at